Zwischen der hügeligen Landschaft des Linzgaus und dem Bodensee liegt Überlingen, ein Kurort mit weit zurückreichender Tradition. Seit 1474 sind hier Trinkkuren und Heilbäder dokumentiert und ab 1825 verwandelte sich die Stadt am Bodensee in einen prunkvollen Kurort, der schnell internationale Prominenz anlockte. Die ganzheitliche Naturheilkunde von Pfarrer Sebastian Kneipp, die auf den fünf Säulen Wasser, Bewegung, Ernährung, Heilpflanzen und Ordnung basiert, gehört zu den Grundpfeilern des Überlinger Kurangebots. Seit 1955 trägt Überlingen den Titel Kneippheilbad. Wasser spielt also eine große Rolle. Umso verwunderlicher, dass ausgerechnet hier, wo das Wasser so wichtig ist, eine ganz besondere Pflanzensammlung Teil des öffentlichen Grüns ist: Am Kakteengarten im Überlinger Stadtgraben kann man nicht ohne Staunen vorbei spazieren. Man glaubt nicht, was man sieht, nachdem man durch den Rosengarten und den Fuchsienweg zum großen Springbrunnen flaniert ist. Dieser Kakteengarten stellt alles andere der städtischen Park- und Gartenanlage in den Schatten, dabei steht er selbst natürlich in voller Sonne und dies schon über 100 Jahre lang.
Das Wunder von Überlingen ist ein stachliges und nicht ohne Tücke, denn die Kakteen werden Jahr für Jahr im Frühjahr vom schützenden Winterquartier in den Stadtgarten umgezogen und im Herbst wieder ins Glashaus zurück. Es muss eine logistische Meisterleistung sein, die rund sage und schreibe 5.000 Exemplare, manche davon sechs bis sieben Meter hoch und bis zu 300 Kilogramm schwer, ohne Druckstellen für die Pflanzen und als Mensch unbeschadet zu verpacken und zu transportieren. Eine Woche dauert die Ochsentour für 10 Stadtgärtner heute. Damals als alles anfing, sollen es tatsächlich Ochsenkarren gewesen sein, die die stachligen und dornigen Pflanzen aus dem Stadtgraben ins warme Gewächshaus brachten, wo sie dicht gedrängt bis Mai überwinterten.
Nein, Kakteen sind auch in Überlingen nicht standortgerecht, aber sie sind schon lange eine Besonderheit im öffentlichen Stadtgarten. Es gibt tatsächlich auch heute noch Exemplare aus der Anfangszeit dieser frei zugänglichen gärtnerischen Besonderheit am Bodensee: 1893 brachte Hermann Hoch, der erste Stadtgärtner von Überlingen, von einer Italienreise einige Kakteen mit an den Bodensee. Dies war der Anfang einer sehr eindrucksvollen Sammlung, die ihresgleichen sucht. Das beinahe mediterrane Klima Überlingens, zwischen wärmendem See und schützenden Molassefelsen, gefiel den stachligen Exoten. Sie wuchsen und gediehen und wurden Sommer für Sommer im Stadtgarten einem staunenden Publikum präsentiert. Noch heute stehen die Kakteen, Sukkulenten und Euphorbien wie Charakterschauspieler nach Erdteilen geordnet und gruppiert auf einer Art botanischen Theaterbühne. Kein Unkräutchen traut sich dazwischen. Manche blühen in fantastischen Farben mit bezaubernden Formen, faszinierend die Choreographie des Ensembles.
Wer mit dem Auto reist, den Bodensee mit dem Fahrrad umrundet oder auf dem 53 Kilometer langen „Premiumwanderweg Seegang" wandert oder spazieren geht, wer bei all dem Garten- und Blütenreichtum, den die Region zu bieten hat, das Exotische sucht, der wird bei den stachligen Diven im Überlinger Stadtgarten seine Freude finden und sich nicht sattsehen können und vielleicht wird er oder sie sich in Ehrfurcht vor den Stadtgärtnern für ihre gefährliche Strapaze verneigen. Mit der Strapaze könnte es bald vorbei sein. Denn passend zum 1250jährigen Stadtjubiläum ist Überlingen im Jahr 2020 Ausrichter der Landesgartenschau. Zu diesem Anlass sollen die Kakteen ein eigenes Haus bekommen. Dann wäre das jährlich zweimal stattfindende, aufwändige Umzugsspektakel Legende. (GPP)